- Image
Warum habe ich nur so ein indifferentes Verhältnis zu diesem Wort? Vielleicht weil es so oft missbraucht und instrumentalisiert wird? Unwidersprochen kommt es aus vielen Mündern, die damit nur oberflächliche Anpassungen an die netten Gepflogenheiten der Gemeinschaft meinen.
Anlässlich des Welt-Postkarten-Tags am 1.10.2020 werden mir plötzlich die Parallelen zu meinem wunderbaren Hobby „postcrossing“ klar.
Ich finde, es wird Zeit, das gute Wort „Wertschätzung“ offensiv mit Gutem zu füllen.
Wertschätzung ist
1. Konzentration auf den einen Menschen
Wir sollten uns darin üben, uns auf die eine Person zu fokussieren. Das heißt: nicht ablenken lassen und andere Faktoren wie Funktionen, Status und anderen Labels einfach mal abschalten. Und auch – für einen Moment – mal andere Menschen ausblenden. Dieser eine Mensch ist jetzt im Moment in meinem Interesse.
Beim Postkarten-Schreiben wird es mir deutlich, diese eine Person wird diesen kleinen Karton in der Hand halten und bei jeder Postkarte im Briefkasten ist klar: jemand hat sich für den Moment nur mit mir beschäftigt.
2. Wert ernst meinen
Unsere Werte sind viel tiefer und bedeutender als ein paar Worte, Bilder, Gesten oder Eindrücke. „Wertschätzung gründet auf innerer Haltung anderen gegenüber. Sie betrifft den Menschen als Ganzes, ist eher unabhängig von Taten und Leistung“ (T. Vasek).
Ich versuche, auf den Wert des Menschen hinter dem gezeigtem Verhalten abzuzielen und meine Werte sichtbar zu machen.
Wer (unbekannten) Menschen (in aller Welt) handgeschriebene Zeilen schickt, für den sind Offenheit und Gemeinschaftsinn häufig die tieferliegenden Motive. Das tut gut, denn das passt zu mir. Diese Werte schätze ich.
3. Freundlichkeit in Verbindung mit Aufrichtigkeit
Der Feind der Wertschätzung heißt Heuchelei. Leider erkennt man den Unterschied nicht immer sofort, doch das Gefühl, dass mitunter bei vermeintlich netten Worten, etwas nicht stimmt, trügt selten. Freundlichkeit kommt anders als Höflichkeit aus tiefem Herzen. Auch Unaufrichtigkeit ist spürbar und kommt daher wie eine schleichende Vergiftung. Warum nur sagen so viele Leute Dinge, die sie gar nicht meinen? Und wie gut tut es uns, wenn wir merken, dass das Gesagte/Geschriebene aus vollem Herzen kommt?
Meine kleinen Postkarten-Zeilen enthalten meine wahren Gedanken sowie liebe und herzliche Grüße aus tiefster Seele.
4. Erleben
Es gibt kaum Organisationen, die in ihren Leitbildern das Wörtchen „Wertschätzung“ vermissen lassen. Echte Wertschätzung erkennt man jedoch an Taten. Wenn ich erfahren habe, wie andere mein eigenes Dazutun in einem Projekt wahrgenommen und anerkannt haben, fühle ich mich gestärkt und habe eine Menge erfahren über meine Kompetenzen und Wirkungen. Wenn ich nicht in Schubladen mit (Wunsch-Kultur konformen) Attributen gesteckt werde, sondern ich die Freiheit spüre, im Einklang mit meinem ureigenem Wertekomplex sein zu dürfen, dann fühle ich mich wirklich (wert-)geschätzt.
Bei Postcrossing ist die Vielfalt der Menschen Programm. Ich bin neugierig auf das Anderssein und muss nicht alles verstehen. Für den kurzen Moment der schriftlichen Begegnung ist auch die für mich nicht nachvollziehbare Meinung ertragbar, und ich bin sogar dankbar für diesen Impuls. Er kommt von außerhalb meiner Blase und führt mich direkt zur Reflexion meines Wertekonstrukts. Gut so.
Wertschätzung = Mensch x Wert + Freundlichkeit + Erleben
Alles andere ist Show, aber keine Wertschätzung.
Ich danke Thomas Vasek, Birgit Gebhardt und Richard K. Sprenger, deren Texte mich maßgeblich auf die Spur zu diesen Gedanken gebracht haben.
Dankbar bin ich auch für die vielen einzigartigen Postkarten, die mich erreicht haben und bei denen ich diese Wertschätzung spüren konnte. Happy postcrossing!
Mehr zu Kultur, Vielfalt und Empfehlungen